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ABSCHIED AM WASSER

Unser Treffpunkt liegt hinter den Alpen, am grossen Fluss, im Paradies. So zumindest heisst der Campingplatz. An diesem NovemberMittag ist das Paradies unbevölkert und empfängt uns mit Sonnenschein.

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Die Familie des Verstorbenen hat mich angefragt, eine Zeremonie mit Ascheausschüttung zu leiten. Sie tragen die Urne ihres geliebten Menschen mit sich. Gereist ist sie in ihrem Kreis, gehalten ein letztes Mal, einen Weg gemacht, der den Lebenden Zeit gab für Gedanken, Erinnerungen, gefühlte Vergangenheit und vergangene Gefühle.

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Hier und jetzt nehmen wir den kleinen Pfad oben am Wasser entlang, folgen seinem Fluss. Immer wieder hat jemand den Eindruck, hier wäre der richtige Platz für die Zeremonie. Doch das Familienfeld bewegt sich weiter, es wollen noch Schritte gemacht werden. Über die grossen Steine nähern wir uns dem stimmigen Platz am Wasser, einander helfend und achtgebend, dass die Urne heil mit uns ist.

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Ich habe mich auf dem langen Weg in den Süden verbunden mit meiner Aufgabe und den Kräften, die mich darin unterstützen. Auf dem kurzen Weg nun mit der Familie zum Platz habe ich mich auf sie eingestimmt und auf den verstorbenen Menschen, dessen Asche das Letzte ist, das wir greifen können.

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Nach einleitenden Worten bitte ich die Menschen Holz für ein Feuer zu Ehren des geliebten Menschen zusammenzutragen. Ein grosser Stein in Herzform fällt in meinen Blick. Dieser kommt auf den mit leuchtenden Herbstblättern geschmückten TafelStein für die Urne. Still steht sie und nah am Feuer, das die zwei jungen Töchter entzünden. Worte, gemeinsamer Gesang, Schweigen und der rauschende Klang des Wassers bereiten den Moment des Loslassens vor. Die Wärme und das Prasseln des Feuers geben der Liebe und Verbundenheit Ausdruck – jede_r legt ein Holz hinein mit den stillen Wünschen für die Seele des Verstorbenen.

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Es ist Zeit. Sorgsam nimmt ein Neffe die Urne, trägt sie zum Wasser, wo ich sie behutsam entgegennehme. Eine Schale mit Blütenblättern steht bereit. Wir öffnen den Deckel der Urne und langsam, unendlich langsam lasse ich die Asche ins Wasser gleiten. Die Zeit dehnt sich aus, gibt den Anwesenden Raum, den Abschied bewusst zu erleben, Blütenblätter mit auf die Reise zu geben. Das Lied, das wir vorhin am Feuer gesungen haben, kommt wie von selbst über meine Lippen, leise, gesungen wie für ein Neugeborenes. Nach einem Neuen, so fühlt es sich an. Ich bin Hebamme. Geleite die Asche dieses Menschen in die andere Welt. Der Fluss empfängt sie, lässt sie in sich sinken, trägt sie – ein Strömen in die Weite und Offenheit der Welten, die wir als Lebende nur erahnen können. Als keine Asche mehr im Gefäss ist, schöpfe ich Wasser nach, immer und immer wieder. Es ist ein archaischer, das Leben und den Tod umspannender Moment. Ein Übergang. Eine Schwelle.

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Ich war ein klein wenig mit drüben. Nun bin ich wieder da. Ganz. Die Blütenblätter fliessen. Und wir Lebenden bleiben an der Schwelle stehen. Den Blick in das sich Weitende und zugleich in das Innen gewendet.

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Es ist zu Ende. Organisch und jede_r in ihrem/seinem Tempo drehen wir uns dem Feuer zu, um dort die mitgebrachten Kerzen zu entzünden, die der Verbundenheit mit dem Menschen, der gegangen ist, Ausdruck verleihen. Und somit Trost.

Alles geschieht mit viel Raum und in der Zeitlosigkeit einer heiligen Handlung, und irgendwann stehen wir wieder auf dem Parkplatz des Paradieses. Das Entfädeln braucht seine ganz eigene Aufmerksamkeit.

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Für heute verabschieden wir uns von der Sonne des Südens. Im Norden wird uns der Winter empfangen mit einem an diesem Tag 10 Zentimeter dicken, frisch gewobenen Mantel. Die Kerzen mit ihrer warmen, trostspendenden FeuerKraft sind mit im Gepäck.

Das Paradies. Es ist immer hier.

 

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Im Februar 2018

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